Die wir liebten von Willi Achten
- Bookloving
- 6. Juni 2020
- 3 Min. Lesezeit
Eindrucksvoller Roman

INHALT
Zwei Brüder, die 70er und ein Heim, in dem das dunkle Deutschland überdauert Die Siebziger in der westdeutschen Provinz. Ein Dorf, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Für Edgar und seinen Bruder Roman ist das Leben überschaubar und gut. Bis sich ihr Vater am Maifest in die Tierärztin verliebt und die Familie verlässt. Die Mutter zieht sich immer mehr in ihren Lotto-Laden zurück. Die Jungen sind bald sich selbst überlassen. Schließlich steht das Jugendamt vor der Tür, um Edgar und Roman in den Gnadenhof zu holen.
Ein Heim, in dem die Methoden der Nazis fortbestehen. In glühenden Bildern erzählt Willi Achten von einem spannungsvollen Jahrzehnt, dem unauflösbaren Band zwischen Geschwistern und vom Aufbruch einer Generation, die dem dunklen Erbe ihrer Eltern mit aller Entschiedenheit entgegentritt.
(Quelle: Piper Verlag - Erscheinungsdatum: 02.03.2020 - ISBN: 9783492059947)
MEINE MEINUNG
In seinem jüngsten Roman „Die wir liebten“ erzählt der rheinische Autor Willi Achten eine fesselnde Coming-of-age-Geschichte von zwei Brüdern und sehr bewegende Familiengeschichte, die einen noch lange Zeit beschäftigt.
Zugleich zeichnet Achten ein äußerst lebendiges und sehr stimmiges Gesellschaftsporträt der 1970ger Jahre in Deutschland und lässt gekonnte eine spannungsvolle Zeit voller Veränderungen, Zuversicht, Widersprüche, Tabus und beklemmender Moralvorstellungen der Ewiggestrigen lebendig werden.
Mit seinem äußerst bildhaften und atmosphärisch dichten Schreibstil nimmt uns Achten mühelos mit auf eine fesselnde und sehr anschauliche Zeitreise in die 1970ger Jahre. Rasch tauchen wir an der Seite von den beiden Protagonisten Edgar und Roman in eine vermeintlich heile Welt ein. Wir begleiten die beiden sehr unterschiedlichen Brüder durch ihre anfangs recht unbeschwerte Jugendzeit, die sie in einem ländlich geprägten Ort am Niederrhein verbringen. Achten erzählt eine emotionale, sehr stimmungsvolle Familiengeschichte mit jeder Menge Zeitkolorit, in der wir nach und nach die Alltagswelt der beiden Brüder und ihrer Familie kennenlernen. Doch ihr harmonisches Familienleben erfährt mit der Affäre und dem Auszug des Vaters ein jähes Ende. Bedrückend ist es mitzuerleben, wie der psychische Zusammenbruch der zuvor so patenten, selbstständigen Mutter und ihre Flucht in den Alkohol die Familie unaufhaltsam auseinanderbrechen lässt und die Teenager zunehmend auf sich selbst gestellt sind. Mit seinen eindringlichen Schilderungen gelingt es dem Autor hervorragend, ein zunehmendes Unbehagen beim Lesen zu erwecken, denn großes Unheil kommt auf die Familie und die beiden Brüder zu, die schließlich als Problemkinder abgestempelt werden, in eine unsägliche Maschinerie geraten und ihr aller Leben unwiderruflich verändern wird.
Schade ist allerdings, dass im Rückentext des Buches einige dieser Ereignisse bereits angedeutet und vorweggenommen werden, die in der Geschichte erst viel später geschehen. Im dritten Teil des Romans kommt es zu einem unerwartet radikalen Bruch, denn der Leser wird nun mit einer höchst schockierenden und verstörenden Erzählung konfrontiert. Einige der Szenen sind wirklich harte Kost und gehen unter die Haut, da sie sehr detailliert Gewalt, Misshandlungen und Demütigungen beschreiben. Hierin thematisiert Achten sehr detailliert, welche fragwürdigen Erziehungsmethoden praktiziert und furchtbaren Verbrechen in deutschen Kinderheimen in der Nachkriegszeit an den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen verübt wurden. Schwarze Pädagogik war wesentlicher Bestandteil der Lebensrealität vieler Heimkinder, Ärzte und Mitarbeiter, die noch immer der Nazi-Ideologie anhingen und Medikamentenversuche für Pharmafirmen – all dies sind Themen, die Achten offenbar sehr ausführlich recherchiert und in seine Geschichte eingearbeitet hat. Gerne hätte ich über die zeitgeschichtlichen Hintergründe und die Recherchen noch mehr in einem Nachwort des Autors erfahren.
Der Roman endet schließlich mit einem sehr bewegenden und versöhnlich stimmenden Ausklang, der einen sehr nachdenklich zurücklässt.
FAZIT
Ein ganz besonderer Roman mit einer interessanten Mischung aus fesselnder Coming-of-age-Geschichte, facettenreichem Gesellschaftsporträt der 1970ger Jahre sowie bewegender und erschütternder Familiengeschichte, die einen noch lange Zeit beschäftigt.
BEWERTUNG

Rezensionsexemplar *UNBEZAHLTE WERBUNG*
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