Anna oder: Was von einem Leben bleibt von Henning Sußebach
- bookloving
- 21. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Sept.
Eine berührende Spurensuche

INHALT
Tief im Sauerland, 1887. Eine junge Frau kommt den Weg hinauf ins Dorf Cobbenrode. Dort soll Anna Kalthoff die neue Lehrerin werden. Doch sie wird es nicht bleiben. Denn Anna widersetzt sich bald den Erwartungen des Ortes und den Regeln ihrer Zeit. Sie entscheidet selbst, was sie zu tun und zu lassen hat, wie sie leben und wen sie lieben will. Und es wird ihr nicht schaden.
Zwei Jahrhunderte später ist diese inspirierende Frau schon fast gänzlich in der Vergangenheit versunken. Einige Fotos, Poesiealben, Postkarten, ein Kaffeeservice, ein Verlobungsring: Viel mehr stand Henning Sußebach nicht zur Verfügung, als er sich auf die Spuren seiner Urgroßmutter Anna begab. Nach einem Jahr der Suche verfestigte sich das Bild: Da hat eine scheinbar gewöhnliche Frau ein außergewöhnliches Leben geführt, gegen allerlei Widerstände. Anna nahm sich, was sie vom Leben wollte. Männer, Arbeit, Freiheit! Diesem Willen hat der Autor seine Existenz zu verdanken. Sein Maßstäbe setzendes Buch ist der Versuch, eine schon fast gänzlich verblasste Erinnerung zu retten. Es ist eine zauberhafte Annäherung an die Vorfahren, ohne deren Entscheidungen und Mut es uns nicht gäbe. Und es ermuntert, nach den Annas zu suchen, die es in jeder Familiengeschichte gibt.
MEINE MEINUNG
*Eine berührende Spurensuche*
Mit seinem biografischen Essay „Anna oder: was von einem Leben bleibt“ begibt sich der Journalist Henning Sußebach auf eine faszinierende Spurensuche nach dem Leben seiner Urgroßmutter Anna, das für ihn lange nur aus spärlichen anekdotischen Überlieferungen fast vollständig im Dunkeln lag, deren Lebensgeschichte für die damalige Zeit aber alles andere als gewöhnlich war.
Anhand nur weniger persönlicher Erinnerungsstücke, wie Fotos, Briefen, einem Poesiealbum, Verlobungsring und einigen Alltagsgegenständen, bemüht sich Sußebach ihre Biografie zu rekonstruieren und bedeutsame Episoden ihres Lebens nachzuzeichnen.
Mit großem Feingefühl und viel Empathie entwirft er das berührende und lebendige Portrait einer außergewöhnlich resilienten, eigenwilligen und selbstbestimmten Frau, die in ihrem Leben neben einigen Höhen auch tragische Verluste gemeistert hat.
Geschickt verwebt Sußebach die persönlichen Spuren von Annas Lebensweg mit dem zeitgeschichtlichen Kontext, den er sorgsam recherchiert und umfangreich zusammengetragen hat. So entsteht allmählich ein facettenreiches Bild, das nicht nur Annas individuelle Biografie zeigt, sondern auch den gesellschaftlichen Wandel im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eindrucksvoll greifbar macht.
Anna Kalthoff (1866 – 1932) lebte in einer bewegten Epoche voller einschneidender Krisen und Entwicklungen, die ihren Lebensalltag stark prägten und in der Frauen strengen gesellschaftlichen Regeln und Einschränkungen unterworfen waren. So erlebte sie politische Umwälzungen, Kriege, Inflation, Industrialisierung, den beginnenden technischen Fortschritt, aber auch vielfältige soziale Umbrüche und sich wandelnde Rollenbilder.
Im Jahr 1887 trat Anna eine Stelle als 20jährige Lehrerin im kleinen Dorf Cobbenrode im Sauerland an. Als junge Frau musste sie sich in einer von Männern dominierten Welt zurechtfinden, die ihr viele enge Grenzen setzte, kaum Rechte und wenig Selbstbestimmung zubilligte. Sußebach zeigt eindrücklich, wie Anna diese widersprüchlichen Welten erlebte und sich darin behauptete. Nach dem tragischen Unfalltod ihres Ehemanns baute sie sich eine neue Existenz auf, wurde Gastwirtin, Unternehmerin und leitete das Postamt ihres Dorfs. Mutig und selbstbestimmt gelang es ihr als junge Mutter und Witwe, die Herausforderungen ihrer Zeit zu meistern und ihren eigenen Lebensweg zu verfolgen. Sie scheint sich vielen gängigen Konventionen widersetzt zu haben, nicht zuletzt indem sie Eigenständigkeit, Liebe und beruflichen Ehrgeiz selbstbewusst vertrat.
Sußebach präsentiert uns jedoch keine klassische, chronologisch erzählte Biografie, sondern vielmehr eine facettenreiche Mischung aus akribischer historischer Recherche, biografischer Spurensuche, Spekulationen und imaginierten Lebensmomenten, die uns eindrucksvoll ein authentisches Bild jener Zeit vermittelt. Äußerst nuanciert und glaubhaft zeichnet er ihren Charakter mit all ihren Widersprüchen und Schwächen und verzichtet bewusst auf eine Idealisierung ihrer Stärken.
Immer wieder pausiert er seine Erzählung zum Reflektieren und legt uns offen die Unwägbarkeiten und Leerstellen seiner Recherche dar, die stets nur eine vage Annäherung an die Persönlichkeit von seiner Urgroßmutter sein kann. Mit viel Feingefühl fügt er Annas Lebensgeschichte auch plausible fiktive Elemente hinzu, um ein möglichst lebendiges Bild entstehen zu lassen, wobei er stets eine respektvolle Haltung zu wahren versteht.
Gekonnt entführt er uns so auch in die längst vergangene Welt unserer Vorfahren, deren Lebenswirklichkeit aus heutiger Sicht bisweilen fremd und ungewohnt erscheint. So regt er uns dazu an, über das fragile Gleichgewicht von Erinnerung und Vergessen nachzudenken sowie über die Bedeutung persönlicher Geschichten vor dem Hintergrund großer historischer Geschehnisse. So verdeutlicht er uns, dass in jeder Familie vielleicht eine unsichtbare Heldin wie Anna zu finden ist, eine widerstandsfähige und selbstbestimmte Frau, die sich von den Herausforderungen ihrer Zeit nicht hat brechen lassen und deren beeindruckende Lebensgeschichte inzwischen in Vergessenheit geraten ist.
Über die individuelle Erinnerung hinaus regt Sußebach zur Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte an. Dieses Buch ist somit nicht nur eine liebevolle Hommage an eine außergewöhnliche Vorfahrin, sondern auch eine Einladung, den vergessenen Lebenswegen unserer Vorfahren nachzuspüren. Abgerundet wird das Buch durch zahlreiche eingefügte Schwarz-Weiß-Fotografien, die vor allem aus dem Familienbesitz stammen, sowie einer kurzen Danksagung und einem Nachwort des Autors.
FAZIT
Eine einfühlsame Hommage an eine zu Unrecht vergessene Urgroßmutter und zugleich ein bewegendes Plädoyer für die Bedeutung von Erinnerungskultur! Es erinnert daran, wie wichtig es ist, persönliche Geschichten zu bewahren und dadurch das kollektive Gedächtnis lebendig zu halten.
BEWERTUNG

Rezensionsexemplar *UNBEZAHLTE WERBUNG*






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