Denk ich an Kiew
- bookloving
- 17. Sept. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Ein eindringlich geschriebener, sehr bewegender Roman

INHALT Behütet und geliebt wächst Katja in einem Dorf bei Kiew auf. Ihre Familie ist nicht reich, kann sich aber von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Bis Stalins Handlanger die Dorfbewohner zwin-gen, dem Kollektiv beizutreten. Wer sich weigert, wird mitgenommen und nie wieder gesehen. An-fangs gibt es für Katja dennoch auch glückliche Stunden. Sie ist in den Nachbarssohn verliebt und ihre Schwester in dessen Bruder. Doch schon bald muss Katja sich jeden Tag Mut zusprechen, um weiterzumachen angesichts des Schreckens um sie herum.
Jahrzehnte später entdeckt Cassie im Haus ihrer Großmutter in Illinois ein Tagebuch. Nie hat diese über ihre ukrainische Herkunft gesprochen. Seit einiger Zeit aber verhält sie sich merkwürdig. Sie versteckt Lebensmittel und murmelt immer wieder einen Namen, den keiner aus ihrer Familie je gehört hat: Alina ...
(Quelle: Lübbe Verlag - Erscheinungstermin: 27.07.22 - ISBN: 978-3-785-2832-1 - Übersetzung aus dem Amerikanischen: Dietmar Schmidt & Rainer Schumacher)
MEINE MEINUNG
In ihrem ergreifenden Roman "Denk ich an Kiew" hat sich die US-amerikanische Autorin Erin Litteken mit ukrainische Wurzeln eines traurigen historischen Themas und finsteren Kapitels der ukrainischen Geschichte angenommen– dem Holodomor, einem Anfang der 1930er Jahre systematisch und gnadenlos von Stalin durchgeführten Feldzug gegen das ostukrainische Volk, der in einer beispiellosen Hungersnot und einem unfassbaren Genozid mündete. Wie Erin Litteken in ihrem ausführlichen Nachwort erläutert, haben die vielen Erzählungen ihrer ukrainischen Urgroßmutter sie zu diesem Roman inspiriert. Deren Familie aus der Westukraine musste zwar nicht selbst die damaligen Gräueltaten durchleben, dennoch wurde auch deren Leben von den damaligen Geschehnissen nachhaltig geprägt.
Die Autorin hat ihren Roman in zwei einander abwechselnden Handlungssträngen angelegt, die auf unterschiedlichen Zeitebenen spielen. Zum einen erleben wir die sehr eindringlich erzählte Geschichte der jungen Katja zum Anfang der 1930er Jahre in einem kleinen Dorf in der Ukraine und zum anderen den im Jahre 2004 in Illinois angesiedelten Handlungsstrang, in dem wir nach und nach mehr über Cassie, ihre Familie und vor allem ihre aus der Ukraine einst geflüchtete und nun an Demenz erkrankte Großmutter Bobby erfahren. Durch den lebendigen, ansprechenden Schreibstil und die interessanten Charaktere wird man rasch in die Geschehnisse der Gegenwart hineingezogen und folgt zugleich gebannt dem Fortgang der höchst ereignisreichen und schockierenden Geschichte in der Vergangenheit, die mich deutlich stärker fesseln und emotional bewegen konnte. Die Autorin schildert in ihrer erschütternden Geschichte um Katja sehr anschaulich und glaubhaft die Hintergründe für die systematische Ausrottung der ukrainischen Kultur und damaligen Geschehnisse rund um die Entkulakisierung und den Holodomor. Man merkt deutlich, dass sie sehr sorgfältig hierzu recherchiert hat und viele Details aus Schilderungen der Zeitzeugen in die Handlung eingebaut hat, um uns authentische Einblicke in die unvorstellbaren Zustände und das unsägliche Leid der Menschen vor Augen zu führen. Aufwühlend und nachdrücklich schildert die Autorin, wie Katja und ihre Familie in dieser so extrem menschenverachtenden Zeit ums nackte Überleben kämpfen mussten, dennoch immer wieder Stärke, Mut und Hoffnung fanden und neben all der bedrückenden Trostlosigkeit versucht haben, füreinander da zu sein und anderen zu helfen. Wir haben Anteil an grauenvollen, schonungslos geschilderten Szenen; die schockierenden Grausamkeiten, das Leid der Menschen und die unmenschlichen Zustände gehen in ihrer Intensität unter die Haut und lassen einen nicht mehr los. Schätzungsweise über 3,9 Millionen Ukrainer starben damals im Holodomor durch Krankheiten, Schwäche, Deportationen oder kaltblütigen Mord. Eindrücklich führt uns die Autorin am Beispiel von Cassies Großmutter vor Augen, dass diese traumatischen Erlebnisse die damaligen Überlebenden zeitlebens belastet haben. Zwar wurden die furchtbaren, belastenden Erinnerungen oftmals erfolgreich verdrängt und der Familie völlig verschwiegen, aber gerade im hohen Alter kommen diese unaufhaltsam und ungefiltert wieder hoch.
Geschickt unterbricht die Autorin immer wieder den Handlungsstrang aus der Vergangenheit und kehrt zu den Geschehnissen in der Gegenwart zurück. Zwar ist es schon interessant mit zu verfolgen, wie die beiden Handlungsstränge miteinander verbunden sind, doch wirkte die in der Gegenwart angesiedelte Handlung um Cassie vor allem aufgrund der sehr klischeehaft umgesetzten Liebesgeschichte etwas oberflächlich, unnötig in die Länge gezogen und konnte mich leider nicht wirklich fesseln und bewegen.
Die unterschiedlichen Charaktere hat die Autorin zwar ansprechend angelegt, doch für meinen Geschmack hätten diese ruhig etwas tiefgründiger ausgearbeitet werden können, so dass man sich noch besser in ihr Seelenleben hätte hineinversetzen können. Dennoch lässt vor allem die bewegende und sehr eindringlich geschilderte Lebensgeschichte von Cassies Großmutter diesen Roman trotz seiner bedrückenden Thematik zu einem fesselnden Page Turner werden, den man nicht so schnell vergisst.
FAZIT
Ein eindringlich geschriebener, bewegender Roman über ein dunkles und prägendes Kapitel der ukrainischen Geschichte, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist!
Trotz einiger Schwächen eine lehrreiche und sehr lesenswerte Geschichte mit einem höchst aktuellen Bezug!
BEWERTUNG

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